Das kollektive Gedächtnis der Disziplin Soziale Arbeit

Ein Analyseverfahren, angewendet auf die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen

Bis ins Jahr 1981 wurden in der Schweiz fürsorgerische Zwangsmassnahmen umgesetzt, darunter die Fremdplatzierung von sogenannten Verdingkindern oder die administrative Versorgung von Personen, deren Verhalten von gesellschaftlichen Normen abwich. Die historische Aufarbeitung hat gezeigt, dass zwischen Armut, fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und der Sozialen Arbeit, insbesondere der Fürsorge, enge Zusammenhänge bestehen. So waren es zum grössten Teil Angehörige der sozialen Unterschicht, die von einer administrativen Versorgung betroffen waren, und Armut war die häufigste Ursache von Fremdplatzierungen. Oft waren es Fürsorgebeamte, welche am Anfang einer administrativen Versorgung oder einer Fremdplatzierung standen. Die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wurden seitens der Fürsorge bis weit in die Nachkriegszeit als notwendiges und legitimes Mittel zur Armutsbekämpfung erachtet.

 

Seit einigen Jahren ist ein gesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen im Gange, an welchem sich Historikerinnen und Historiker, die Politik in Form der «Wiedergutmachungsinitiative», aber auch einzelne Institutionen und Kantone beteiligen.

 

Diese Arbeit untersucht, ob und wie in der Disziplin der Sozialen Arbeit in der Schweiz der Umgang mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erinnert wird. Basierend auf Theorien des kollektiven Gedächtnisses wird zunächst ein Analyseverfahren entwickelt, das fünf aufeinanderfolgende Schritte umfasst. Ziel des Verfahrens ist es zu eruieren, ob und wie die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen Eingang in das kollektive Gedächtnis der Disziplin der Sozialen Arbeit finden. Die Analyse hat ergeben, dass die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen nur bruchstückhaft und in Teile des kollektiven Gedächtnisses aufgenommen werden. Ein plausibler Grund liegt darin, dass die Soziale Arbeit als junge Disziplin, deren Anerkennung innerhalb der Wissenschaften nicht unumstritten ist, hauptsächlich identitätsstiftende Elemente in ihr Gedächtnis aufnimmt. Basierend auf den weiteren Ergebnissen der Analyse kann vermutet werden, dass sich ein offener Umgang mit belastenden Aspekten der eigenen Vergangenheit positiv auf die Disziplin auswirken könnte. Dazu müsste die Rolle der Sozialen Arbeit in Zusammenhang mit den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen innerhalb der Disziplin verstärkt diskutiert werden und Eingang in die Grundlagenwerke zur Sozialen Arbeit in der Schweiz finden, was bisher nicht stattgefunden hat.

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Sarah Seiler, Flavio Seiler
Das kollektive Gedächtnis der Disziplin Soziale Arbeit
Ein Analyseverfahren, angewendet auf die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen
Bachelor-Thesis
58 Seiten
05.2019