Kindheit mit von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen direktbetroffenen Eltern
Eine rekonstruktive Analyse mittels Grounded Theory bezüglich des Phänomens der Rollenumkehr
Bis ins Jahr 1981 waren fürsorgerische Zwangsmassnahmen gängige Praxis des schweizerischen Sozialstaates. Darunter sind schwerpunktmässig die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in Heimen und Erziehungsanstalten, deren Verdingung als billige Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Gewerbe sowie die administrative Versorgung von Personen, die in ihrem Lebensstil von gesellschaftlichen Normen abwichen, in Anstalten und Gefängnissen zu verstehen. Im Erleben dieser Zwangsmassnahmen erfuhren die Betroffenen Traumatisches, insbesondere durch das Verweigern von Persönlichkeitsrechten, durch physische, psychische und sexualisierte Gewalt, das Ausnutzen von Arbeitskraft sowie gesellschaftliche Stigmatisierung. Diese Bachelor-Thesis untersucht, wie sich die Erfahrungen der von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen direktbetroffenen Personen auf die Biografien ihrer Nachkommen auswirken. Dies geschieht unter dem Dach des NFP-76-Forschungsprojekts «Von Generation zu Generation: Familiennarrative im Kontext von Fürsorge und Zwang» unter der Leitung von Frau Dr. Andrea Abraham am Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule. Diese Arbeit fokussiert spezifisch auf rollenumkehrende Beziehungsphänomene zwischen Eltern und Kindern, welche in einer pathologischen Ausformung als Parentifizierung bezeichnet werden. Die Unterteilung in emotionale und instrumentelle Parentifizierung ist geläufig. Eine Erklärung für die bewusste oder unbewusste Bereitschaft zur Rollenübernahme lautet, dass die Kinder die Bedürftigkeit ihrer Eltern wahrnehmen und sie zu entlasten versuchen, um ihnen nahe zu bleiben und für sich selbst Schutz und Liebe der Eltern aufrecht zu erhalten. Anhand der im Rahmen eines biografisch-narrativen Interviews erzählten Lebensgeschichte von «Angela», Tochter von zwei von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen direktbetroffenen Elternteilen, wurde mittels Grounded Theory eine rekonstruktive Analyse unternommen. Im Analyseprozess wurde durch die Aufspaltung der Analyse nach Mutter und Vater eine Kontrastierungsmöglichkeit geschaffen. Das analysierte Datenmaterial zeigt deutliche Aspekte von emotionaler und instrumenteller Parentifizierung im biografischen Erleben von «Angela». Vonseiten des Vaters kommt die emotionale Komponente der Rollenumkehr zum Tragen, indem er in seltenen Momenten sein Schweigen bricht und mit expliziten Schilderungen seiner traumatischen Erfahrungen die kindlichen emotionalen Grenzen Angelas überschreitet. Derweil erlebt Angela durch ihre Mutter sowohl emotionale als auch instrumentelle Parentifizierung. Zum einen ist dies an der mütterlichen Manipulation festzumachen, zum anderen übernimmt Angela Aufgaben in Haushaltsführung und Sorgearbeit, welche ihre Mutter zu leisten nicht imstande ist. Während Angela eine lebenslange Sorge um das Wohlergehen ihres Vaters entwickelt, stellt sich bei Angela hinsichtlich ihrer Mutter zusehends ein Gefühl der Zerrissenheit ein.