Sexueller Missbrauch im Kontext der stationären Erziehungshilfe
eine qualitative Untersuchung der Deutungen und Wissensbestände von Fachpersonen
Sexueller Missbrauch durch Bezugs- und Betreuungspersonen war lange Zeit tabuisiert. Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass Kinder und Jugendliche in der stationären Erziehungshilfe einem erhöhten Risiko der Viktimisierung ausgesetzt sind. Die vorliegende Untersuchung setzte sich deshalb zum Ziel, mit einer wissenssoziologischen Perspektive die Wissensbestände von Fachpersonen zu analysieren. Auf der empirischen Basis von fünf problemzentrierten Interviews und deren Auswertung durch den Kodierprozess der Grounded Theory wurde explorativ untersucht, wie Fachpersonen der stationären Erziehungshilfe das Phänomen des sexuellen Missbrauchs deuten. Die Ergebnisse weisen auf eine komplexe und multifaktorielle Konstitution des Deutungsmusters hin. Ein verbindendes Element scheint die handlungsweisende Deutung sexuellen Missbrauchs als Stigma zu sein. Die kollektive Orientierung unterschied sich dabei grundlegend, je nachdem, ob Fachpersonen über konkretes «Vorfallwissen» als Erfahrungswissen verfügten oder nicht. Die gewonnenen Erkenntnisse bilden eine erste Grundlage für weiterführende Studien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch. Im Fokus solcher Untersuchungen sollten die Dynamiken zwischen Fachpersonen auf allen Ebenen einer Einrichtung, deren Schutzbefohlenen sowie die institutionelle und gesellschaftliche Rahmung dieses Phänomens stehen.