Christliche Sekten Mechanismen und Auswirkungen von Mitgliedschaft und Ausstieg

Die Relevanz von Religion tritt geschichtlich gesehen v. a. in Krisensituationen zutage. Durch u. a. Säkularisierung und postmodernen Wandel in Europa werden althergebrachte Werte und Normen, inklusive Religion, zunehmend auf den Prüfstand gestellt. Infolgedessen entstehende vermehrte Bedürfnisse nach Orientierung und Anleitung spielen sogenannten Sekten in die Hände, die mit Stabilität sowie dem Füllen des ,Sinnvakuums’ werben und gerade bei angeschlagenen Menschen in Lebenskrisen tendenziell auf Resonanz stossen.
Diese Thesis widmet sich dem Phänomen der christlichen Sekten und definiert den Sektenbegriff, deren Merkmale und Anfälligkeitsfaktoren für einen Beitritt. Das übergeordnete Ziel ist, durch Literatur und Empirie zu beantworten, welche Mechanismen und Auswirkungen eine Mitgliedschaft sowie ein Ausstieg beinhalten. Durch Literaturauswertung wird deutlich, dass Neumitglieder je nach ,Kult-Bedürfnis-Passung’ das, was sie suchen, finden, aber auch in ein destruktives Umfeld geraten können, in dem die Persönlichkeit graduell mit einer Sektenidentität ersetzt wird. Anhand von Manipulation und Indoktrination können Sekten Kontrolle über Verhalten, Informationen, Gedanken, Emotionen und Bewusstsein ihrer Mitglieder erlangen. Sie haben Suchtpotenzial und üben durch Schuld und Angst Druck aus. Dichotomes Denken, Realitätsverlust, kognitive Dissonanz, externe Konflikte, soziale Kastration und gesundheitliche Effekte können die Folge sein. Mit freiwilligen oder erzwungenen Ausstiegen können ungewollte Rückblenden, gesundheitliche Erkrankungen wie das religiöse Trauma Syndrom, Depressionen und der Verlust geistiger Fähigkeiten, erneute Angst und Schuldgefühle sowie Stigmatisierung einhergehen.
Im empirischen Teil werden drei qualitative Aussteigenden-Interviews mittels Grounded Theory analysiert und ausgewertet. Die Ergebnisse decken sich mit dem Theorieteil und erteilen zudem Aufschluss über die diversen Handlungsstrategien der Befragten, was sich auch nach deren Ausstieg in heterogenen Einstellungen zum Glauben niederschlägt. Die Vielfalt und -schichtigkeit einzelner Sekten und -Mitglieder tritt trotz gemeinsamer Nenner deutlich zutage.
Ausstiegshilfen wie das Drei-Stufen-Modell, der Strategic Interactive Approach und der frühere Odenwälder Wohnhof werden den Bedürfnissen der Aussteigenden gerecht, sind aber gerade im deutschsprachigen Raum noch zu wenig verbreitet. In Amerika wohl existent, fehlt zudem zum Odenwälder Wohnhof ein hiesiges aktuelles Pendant. Die Soziale Arbeit ist gerufen, ebenen- und professionsübergreifend zu agieren und sowohl Fachpersonen als auch Medien, Politik und Gesellschaft noch mehr für die Sektenproblematik zu sensibilisieren. Vorrangig sollte sie Menschen in Lebenskrisen geeignete Alternativen zum Sektenbeitritt anbieten.

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Kerstin Thiel
Christliche Sekten Mechanismen und Auswirkungen von Mitgliedschaft und Ausstieg
Master-Thesis
173 Seiten
10.08.2022
10.26038/623686